… wird dringend notwendig, denn die Wiederholungen der alten bösen Propaganda und ihrer Wort-Wendungen schleicht sich ständig ein:

„Das Volk“ schrie zum Beispiel nie nach einem „starken Führer“, es waren immer Einzelne, die sich damit Vorteile erhofften: Adel und Militaristen, deren Presse.

„Das Volk“ will ein Leben ohne Hunger und Zwang …

Nun danke ich den unbekannten Autoren mit meinen Anmerkungen zum Artikel, der über PRESSENZA im August verbreitet worden war:

Die Münchner Räterepublik:

Kunst wird Macht, Kunst wird Blut

11.08.2019 – megafon 445 Untergrund-Blättle mit meinen Anmerkungen in ROT

Die Münchner Räterepublik: Kunst wird Macht, Kunst wird Blut
Kurt Eisner rief am 7. November 1918 in München den «Freistaat Bayern» aus. (Bild von Unbekannt – cropped)

In den Wirren um die Macht im neuen Deutschland endet das progressivste der Experimente, die Münchner Räterepublik, im Blutbad. Anhand des Beispiels München zeigt sich exemplarisch, wozu die Väter der Weimarer Republik fähig waren – und was das heute mit uns zu tun hat. Die Rekonstruktion einer grossen Geschichte.

In München trifft sich am «Fin de Siècle» alles, was sich als fortschrittlich oder revolutionär versteht. Die Gesellschaft hat den ersten Schock der Industrialisierung verdaut und profitiert nun von grösserem materiellem Reichtum und mehr individuellen Freiheiten:

Die immer grösser werdenden, vielfältigen Bewegungen für die Befreiung von Unterdrückung und vom Joch der Arbeit; für Vegetarismus und Frauenrechte sind in München besonders stark. Die Menschen gehen leicht bekleidet durch die Stadt, scheren sich nicht mehr um konservative Konventionen. In Cafès trifft sich die Bohème und die Avantgarde: Gemeinsam diskutiert und streitet man darüber, wie man die Gesellschaft verändern könnte und wie das am Schnellsten geht.

Klingt schön und leicht, der König spazierte allerdings wie die bessere Gesellschaft im Gehrock im Englischen Garten, der antisemitische Kardinal im Talar: Die Gesellschaft an sich war konservativ und reaktionär, der Adel militaristisch und erlebte seit Jahren die guten Geschäfte der Aufrüstung.

Armut, Krankheit durch giftige Arbeit und reihenweiser Kindertod, mit dem Hunger in der Kriegszeit verschärft … 

Kunstgruppen wie der «Blaue Reiter» um Wassili Kandinsky, Franz Marc und Gabriele Münter (später um Paul Klee ergänzt) entstehen; Schriftsteller und Überlebenskünstler wie Oskar Maria Graf, Hermann Hesse, Rainer Maria Rilke leben hier oder sind regelmässig zu Gast.

Oskar Graf war von seinem älteren Bruder ständig zur harten Bäcker-Arbeit geprügelt worden, der Lübecker Apothekers-Sohn Erich Mühsam wusste oft nicht, wovon zu leben, 

Schwabing war eine Oase in der Bürgerlichkeit und in der reaktionären Umgebung der Universität: Studierende, fast durchgehend männlich und „gehobenen Standes“, die Kunstakademie eine königliche Malschule …

Max Weber, neben Marx einer der Urväter deutscher Soziologie, ist Münchener. Im damaligen Künstlerquartier Schwabing entstehen gelebte Utopien, die weit über die Stadt- und Landesgrenzen hinaus ihre Wirkung entfalten:

Deutschland hat ausser München nur Berlin, das eine ähnliche Ausstrahlung hat. Wien und Zürich sind als Zentren der Progressiven, Künstler*Innen und Sozialist*innen zudem als unmittelbar einflussreich zu erwähnen.

Zeitschriften wie Mühsam’s „KAIN“ und „Der Ziegelbrenner“ von Ret Marut konnten nur zeitweise erscheinen, denn die Zensur gegen den Pazifismus erlaubte in Kriegszeiten keine andere Meinung als patriotische Töne.

Die Urkatastrophe

Der ungebrochene Optimismus lässt viele verkennen, dass sich nach den bürgerlichen Revolutionen mit dem Effekt der Gründung der Nationalstaaten die Konkurrenz nicht gelegt, sondern verschärft hat.

Nach dem Deutsch-Französischen Krieg 1870 herrschte 44 Jahre Frieden in Mitteleuropa, ehe im Sommer 1914 der 1. Weltkrieg ausbricht – im englischen Sprachraum bis heute «the Great War», im deutschsprachigen oft «Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts» genannt.

Jahrelang war das Säbelrasseln immer lauter geworden, Nationalismus vermischte sich mit dem omnipräsenten Fortschrittsglauben. Auch Künstler wie Franz Marc zogen als Freiwillige euphorisiert in den Krieg und kehrten nicht mehr wieder.

Viele andere wurden durch den Krieg zu Pazifisten und Sozialisten. Die Gesellschaft bricht zusammen.

Ein Krieg bricht nicht aus, er ist kein Natur-Ereignis wie ein Vulkan-Ausbruch. Er wird eher vom Zaun gebrochen, indem man den Zaun der Politik durchbricht, und die Grenze zu Belgien, vorher die Grenzen der Propaganda: „Rußland hat angegriffen“, so dass die deutschen Truppen durch das neutrale Belgien nach Frankreich müssen?

Die Gesellschaft bricht zusammen? Die Versorgung der Bevölkerung und der „Patriotismus“ brach zusammen, wobei die Reichen immer noch ihre Wege der Versorgung hatten …

Das Fenster der Geschichte öffnet sich

Nach dem 1. Weltkrieg nutzen Soldaten, Matrosen, Sozialdemokrat*innen, Anarchisten, Sozialist*innen, Schriftsteller, Dichterinnen und Arbeitende die Gunst der Stunde und übernehmen die Macht in ganz Deutschland – so auch in München.

Als in Berlin der Kaiser abdanken muss, vertreibt das Volk in München die Wittelsbacher Königsfamilie, die seit Jahrhunderten Bayern beherrschte. Es ist eine Sensation, und alles scheint möglich.

Die Reihenfolge war umgekehrt, und es fehlt das Meutern der Matrosen in Kiel, die ihre „Opferung“ mit den Schiffen der Kaiserlichen Flotte“, die den Engländern nicht in die Hände fallen sollten, nicht mit ihrem Leben bezahlen wollten.

Die Matrosen wurden „nach Hause“ geschickt, womit sich die Nachricht im Land verbreitete, trotz Kriegszensur in den Zeitungen, die sogar die „Spanischen Grippe“ verschwiegen, weil die Todes-Meldungen dem Feind hätten nützen können.

Die Königsfamilie ist geflohen, denn die Russen hatten 1917 nach der Revolution dort die Zarenfamilie ermordet: Diese Angst hatte der Adel aufgenommen.

Kurt Eisner war im Oktober für den Wahlkampf um den frei gewordenen Reichstags-Sitz des bayrischen SPD-Vorsitzenden Vollmar endlich aus der Untersuchungshaft frei gekommen, und hatte, statt der Friedensdemonstration der SPD durch die Stadt zu folgen, mit seinen Leuten einen Rundgang durch die Kasernen gemacht, um zu sichern, dass niemand schießen würde … und war dann von Versammlungen in Bierkellern zum Landtag in der Prannerstraße gezogen, den Freistaat auszurufen.

Augenzeugen und Historiker*innen beschreiben es eher als Zufall, denn als geplante Aktion, dass am 7. November 1918 Kurt Eisner sich an der Spitze einer Riesendemonstration auf der Theresienwiese wiederfindet – und von der Welle der Euphorie bis ins Parlament geschwemmt wird.

Eisner hatte mit seinen Diskussions-Treffen im Goldenen Anker längst eine Runde vorbereitet, die auch nach den Rüstungsarbeiter*innen-Streiks Ende Januar 1918 und seiner Verhaftung mit einem Dutzend der ergreifbaren USPD-Leute und Sonja Lerch, geb. Rabinowitz, eine Basis geschaffen, gleichzeitig hatten sich Viele für seine Freilassung eingesetzt, der Übergang von militaristisch gewordener SPD (vor dem Krieg pazifistisch) zur USP war in jeder Person eine eigene Entscheidung …

Dort verkündet er mitten in der Nacht den «Freistaat Bayern». Bayern ist keine Monarchie mehr – sondern eine Republik. Angeführt von einem Theaterkritiker und Schriftsteller, der in der USPD politisiert und sowohl eine parlamentarische als auch eine Rätedemokratie anstrebt.

Eine gute Vorbereitung auf die „100 Jahre Revolutionszeit“ war eine Ausstellung im Stadtmuseum zur propagandistisch verdrängten Arbeit von Kurt Eisner als langjährigem Redakteur des Vorwärts, der SPD-Parteizeitung, die ihm in demokratisch denkenden Kreisen Anerkennung und Bekanntheits-Basis gebracht hatte.

Der Mord an Kurt Eisner

Die Euphorie hält an, wird aber längst nicht von allen geteilt. Bei den ersten freien Wahlen, die Eisner anberaumt, verliert seine Partei haushoch – Konservative, MSPD, Kommunisten, Nazi-Vorläufer – sie alle holen mehr Stimmen.

Schon kurz vor der Revolution hatte der Arbeitgeber-Verband mit den Gewerkschaften den Stinnes-Legien-Pakt geschloßen, der sich jetzt noch als „Sozialpakt“ mit dem Bundespräsidenten feiert: Acht-StundenTag und Betriebsräte, wenn die Gewerkschaften den Arbeiterrat und Enteignungen verhindern.

500 Millionen Reichsmark aus Banken und Unternehmen in einem Anti-Bolschewisten-Fonds werden die Gegen-Propaganda und die Ausrüstung des Nieder-Schießens finanzieren.

Alldeutsche, Burschenschaften, Kirchen, Konservative, Rechte wie die Thule-Gesellschaft haben die Mehrheit der Presse, die Kanzeln, drucken Flugblätter und hetzen mit lügnerischer Propaganda, wie heute: Eisner als ostgalizischer Jude unter falschem Namen, der seine ganze Familie in die Regierung gesetzt hätte …

Eisner ist desillusioniert, will weiterkämpfen. Doch er entschliesst sich, das Resultat zu respektieren und kündigt auf den 21. Februar 1919 seinen Rücktritt an. Auf dem Weg zur Abschiedsrede wird Eisner von einem jungen Mann hinterrücks erschossen. Statt einer geordneten Machtübergabe herrscht nun Chaos.

Sein Tod radikalisiert die Konflikte zwischen Anhänger*innen der Räterepublik und autoritärer Kommunist*innen auf der einen und Parlamentarier*innen und Monarchisten und Vor-Nazis auf der anderen Seite.

Zuerst gab es einen Münchner Räte-Kongraess, dessen stenografische Berichte erhalten sind. Die SPD hatte eher das Problem, vom Pferd der königlichen Parlaments-Partei herabzusteigen, vor allem, nach dem in Berlin die Arbeiter und Matrosen, wie Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht mit ihrer Zustimmung niedergeschossen worden waren. Die Oberste Heeres-Leitung OHL hatte Ebert die Rückendeckung zugesichert.

Nach Wochen der Unruhe und des faktisch regierungslosen Zustandes, der ungekannte Freiheiten ermöglichte und zu den wohl verrücktesten Tagen gehörte, die München je gesehen hatte, entscheidet sich Anfang April 1919 eine illustre Gruppe, die Macht zu übernehmen.

Es handelt sich dabei nicht um Politiker*innen: Ernst Toller, Gustav Landauer, Erich Mühsam, Ret Marut (später B. Traven), Silvio Gesell und andere sind Schriftsteller, Dramaturgen, Dichter, Übersetzer und Ökonomen.

Sie sind erfüllt vom Geist der goldenen Zukunft, die sie in München und anderswo vor dem Krieg aufgesogen haben. Sie kennen sich von früher.

Sie glauben daran, die Gesellschaft jetzt verändern zu können und Eisners Werk konsequenter weiterzuführen. Sie sind Helden – ihrer Zeit voraus. Sie wissen aber auch, dass sie etwas Unmögliches wagen.

Nach dem Rätekongress gab es massive Angriffe auf die SPD, die den alten Parlamentarismus weiter führen wollte, so dass sich die Regierung mit Parlament nach Bamberg verzog.

Eine Woche Anarchie?

Das Werk der Münchner Räterepublik hält sich eine Woche. Dabei wird die Prügelstrafe abgeschafft und Privateigentum kollektiviert. Im Wittelsbacher Palais ist ständige Bürger*innensprechstunde, der ehemalige Königspalast ist nun Volkshaus.

Von Bamberg aus unterstützt die SPD den gut finanzierten Aufbau der reaktionären Freikorps aus arbeitslosen Soldaten und die Putsch-Versuche der Thule.

Doch der Traum währt nur kurz. Am Palmsonntag sickern von der SPD aus dem Exil in Bamberg geschickte bewaffnete Einheiten in die Stadt. Es kommt zu schweren Gefechten am Hauptbahnhof. Erich Mühsam (und einige weitere Räte) wird festgenommen und inhaftiert.

Die anderen grossen Figuren kommen davon – werden nun aber ersetzt von der kommunistischen Bewegung um Max Levien und Eugen Leviné.

Die beiden KPD-Führer hatten die Räterepublik nicht unterstützt, da deren Führer auf Gewalt und revolutionären Terror bei der Machtübernahme verzichten wollten und dies auch durchzogen.

Die Kommunisten gehen nun rabiater gegen Gegner*innen, Kapitalist*innen und Medien vor. Gleichzeitig kreisen Reste des deutschen Heeres und vor allem völkisch-nationalistische Freikorps München ein und hungern es aus.

Eine Verleumdungskampagne – massgeblich von der SPD losgetreten – hetzt gegen die Führer der Räterepublik. Da viele unter ihnen Juden sind, fällt das noch leichter.

München versinkt in Strassenkämpfen am Tag der kämpfenden Arbeiterklasse. Ab 28.4. finden im Raum Starnberg und Erschießungen und Verhaftungen statt,

Gegen die Übermacht der Freikorps haben die Arbeiter*innen kaum Chancen.

Am 4. Mai ist der Widerstand vorüber: Die Räterepublik ist Geschichte, ihre Führer werden gefasst, eingesperrt oder zu Tode geprügelt; nur Ret Marut kann fliehen.

Über 1000 Menschen werden in wenigen Tagen massakriert, die Vor-Nazis haben freie Hand. München wird vom progressiven Paradies zur «Ordnungszelle», die Konservativen und Reaktionären übernehmen die Macht.

Ab 1923, dem Jahr des Hitler-Ludendorff-Putsches, wird München zur «Hauptstadt der Bewegung» – die Folgen sind bekannt: Zehn Jahre später ist die junge Weimarer Republik schon wieder Geschichte.

Vier Jahre politischer Mord

Der Mathematiker und Statistiker Emil-Julius Gumbel veröffentlicht 1922 ein Werk, das die junge Republik wie eine Bombe trifft.

Gumbel weist in seinem akribisch recherchierten Werk 380 politisch motivierte Morde seit dem Ende des 1. Weltkrieges nach. Dabei stellt er fest: Von den 358 Morden rechtsextremer Attentäter*innen werden viele nicht geklärt.

Im Schnitt erhielten die Mörder Haftstrafen von vier Monaten. Wer aus «linker Gesinnung» gemordet hatte, wurde in zehn von 22 Fällen zum Tode verurteilt, der Rest waren lebenslange Haftstrafen. Diese Zahlen wurden vom Innenminister bestätigt.

Gumbels Recherche zeigte auf, wie einseitig das Weimarer Deutschland von Reaktionären und Völkischdenkenden geprägt war. Die SPD paktierte von Beginn an lieber mit Monarchisten, Konservativen und völkischen Kräften, als sich mit Sozialist*innen für eine Rätedemokratie einzusetzen.

Sie ist massgeblich für dutzende Massaker an Arbeitenden und zehntausende Tote verantwortlich: Innenminister Noske ordnete den Tod Luxemburgs und Liebknechts persönlich an. Was in Berlin geschehen, zog sich in München im Mai 1919 weiter. Nur mit Glück und dank wichtigen Fürsprechern entkamen Mühsam und die Pazifisten Toller und Gesell mit Festungshaft, statt dem Tode davon.

Und heute?

Bis heute gibt es in Deutschland und München kaum Gedenken über die Ereignisse jener Tage. Bis heute werden die MSPD-Väter Scheidemann und Ebert verklärt und deren Pakte mit dem Teufel verschwiegen.

Dabei hätte die NSDAP niemals so stark werden können, hätte die SPD deren Freikorps-Vorläufer nicht quasilegalisiert und als Eingreiftruppen eingesetzt. München wäre nicht von der freiheitlichsten aller Städte Europas zu Hochburg der Braunen geworden, Hitler wäre nicht nach nur zwei Jahren Festungshaft nach dem Putsch wieder entlassen worden.

Bis heute sträubt sich die SPD dagegen, ihre Taten, die bereits 1914 mit der Zustimmung zum Kriegskredit begannen, aufzuarbeiten. Bis heute verschweigt die CSU der bayrischen Bevölkerung die Wurzeln ihrer Herrschaft und die wahren Väter und Mütter des identitätsbildenden Freistaates.

Bis heute warten die Held*innen der Münchner Räterepublik auf die Wiederherstellung ihrer Ehre und ihrer Denkmäler, die von den Nazis nach der Machtergreifung alle zerstört wurden.

Bis heute wartet die Welt auf die Verwirklichung der humanistischen, sozialen und künstlerisch geprägten Vision einer befreiten Gesellschaft.

Lang lebe Landauer! Lang lebe München! Lang lebe die Räterepublik!

Kategorien: Europa, Politik
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