Republik Bayern
Der Weltkrieg hat den Zusammenbruch der politischen und wirtschaftlichen Ordnung herbeigeführt. Das entrechtete, von der Entscheidung über seine Lebensfragen ausgesperrte Volk wurde von schrankenlos herrschenden Gewalten in Krieg und Untergang getrieben. In der Stunde höchster Not aber, raffte sich dieses ohnmächtige Volk auf, zertrat in gewaltiger revolutionärer Erhebung das schuldige System der Vergangenheit und riß die Macht an sich. Das politisch ohnmächtige Volk wurde durch die Revolution das freieste.
Das bayerische Volk ist in der Befreiung Deutschlands vorangegangen. Es ist entschlossen, als ein kraftvolles, selbstständiges Glied in einigem Verein deutscher Staaten und im Geiste des kommenden Völkerbundes zu wirken, der die Menschheit zu friedlicher gemeinschaftlicher Arbeit für alle Zeiten zusammenschließt.
Die Vergangenheit ist tot. Auf neuen Wegen ringt das Volk um die Gestaltung seines Schicksals. Daß dieses Volk in seiner Gesamtheit frei über die Bedingungen und Formen seines Lebens entscheidet, ist das unantastbare ewige Grundgesetz der bayerischen Republik. Seine Herrschaft soll nicht in der Anwendung leerer äußerlicher Rechte bestehen, sondern in der unmittelbaren und unablässigen Mitarbeit an den Angelegenheiten des Staates und in der gesetzlich verbürgten Macht, den Volkswillen jederzeit durchzusetzen. Diese lebendige Demokratie vollzieht und vollendet sich in den freien Organisationen des Volkes wie im Landtag und ganz besonders in der Volksabstimmung, die den Zweck und die Wirkung hat, die Übereinstimmung zwischen dem Willen des Volkes und seinen Vertretungen in Regierung und Landtag zu sichern.
Die uneingeschränkte Herrschaft des Volkes, die gewaltige Kraft der Massen kann aber nur dann in schöpferische Leistung umgesetzt werden, wenn alle mit Kopf und Hand Arbeitenden im Staate durchdrungen sind von der einheitlichen Erkenntnis der Staatsziele und der Klarheit über die Mittel ihrer Erreichung. Aus der völligen Zerrüttung der alten Verhältnisse kann nur die soziale Neuordnung herausführen. Die neue Demokratie kann ihre Lebensfähigkeit und ihr Daseinsrecht nur in dem Grade beweisen, als es ihr gelingt, in ruhiger organisierender Arbeit, den sozialen Neuaufbau der Gesellschaft von Grund aus zu verwirklichen.
In einem umfassenden Verfassungswerk sollen die Grundsätze der sozialistischen Republik zur Darstellung gelangen. Bis zur Vollendung dieser Aufgabe, die dem von der revolutionären Regierung einberufenen Landtag obliegt, bleibt das folgende vorläufige Staatsgrundgesetz in Kraft, das die unerläßlichen Grundsätze der künftigen Verfassung festlegt, und solange die giltige provisorische Verfassung der Republik Bayern darstellt, bis die endgültige Verfassung zustande gekommen ist.
Staatsgrundgesetz der Republik Bayern vom 4. Januar 1919
Bayern ist eine Republik.
1. Bayern ist Mitglied der Vereinigten Staaten Deutschlands (Deutsches Reich).
2. Die höchste Gewalt des Bayerischen Staates liegt beim Volk.
3. Das Volk äußert seinen Willen durch Abstimmungen und Wahlen der Staatsbürger und die durch die Verfassung eingesetzten Organe.
Staatsbürger ist ohne Unterschied der Geburt, des Geschlechtes, des Glaubens und des Berufes jeder Angehörige des Bayerischen Staates, der das 20. Lebensjahr vollendet hat.
4. Durch Wahlen der Staatsbürger wird der Landtag gebildet, der aus einer Kammer besteht. Die Wahl ist allgemein, gleich, unmittelbar, geheim, nach dem Verhältnisse der Stimmen.
5. Wahlberechtigt sind alle bayerischen Staatsbürger, wählbar sind alle bayerischen Staatsbürger über 25 Jahre.
6. Die oberste vollziehende Gewalt wird vom Gesamtministerium ausgeübt.
7. Das Gesamtministerium hat das Recht, Beschlüsse des Landtags spätestens innerhalb 4 Wochen der Volksbestimmung (Referendum) zu unterbreiten.
In solchen Fällen werden die Beschlüsse des Landtags erst wirksam, wenn sie in der Volksabstimmung mit einfacher Mehrheit der abstimmenden Staatsbürger bestätigt sind.
Entscheidet die Volksabstimmung gegen den Landtag, so ist er aufzulösen.
Entscheidet sie gegen das Gesamtministerium, so hat es zurückzutreten.
8. Der Staat sichert die Unverletzlichkeit der Person, Freiheit des Glaubens und der Meinung in Rede und Schrift, Freiheit der Lehre, Wissenschaft und Kunst.
9. Das Eigentum ist unverletzlich. Die Enteignung von Vermögen kann nur zum Zwecke des Gemeinwohls auf Grund von Gesetzen erfolgen.
10. Vor dem Gesetze sind alle Einwohner gleich. Niemand darf seinem gesetzlichen Richter entzogen werden. Die Rechtsprechung wird durch unabhängige Gerichte ausgeübt.
11. Alle Vorrechte der Geburt und des Adels, sowie Titel, die keine Berufsbezeichnungen sind, werden aufgehoben.
Neue Fideikommisse dürfen nicht errichtet werden, die bestehenden sind durch besonderes Gesetz aufzuheben.
12. Die öffentlichen Lasten sind ansteigend nach der Leistungsfähigkeit zu verteilen.
13. Die Gemeinden und Gemeindeverbände haben das Recht, weitgehender Selbstverwaltung.
Die Wahlen zu den gemeindlichen Vertretungskörpern erfolgen nach den Grundsätzen des Landtagswahlrechts.
14. Die Glaubensgesellschaften sind unabhängig von Staate und unterstehen dessen Schutz. Alle Glaubensgesellschaften sind gleichberechtigt und frei in ihrer Bestätigung.
Niemand kann zum Eintritt in eine Glaubensgesellschaft, zur Teilnahme an ihren Kultus oder zum Verbleiben in einer Glaubensgesellschaft gezwungen werden.
Bestehende Rechte der Glaubensgesellschaften können nur auf dem Wege der Gesetzgebung abgelöst werden.
15. Das Unterrichtswesen ist eine staatliche Angelegenheit. Die Erteilung des Religionsunterrichts obliegt den Glaubensgesellschaften.
Staatliche Lehrpersonen können zur Erteilung des Religionsunterrichts nicht gezwungen werden;
die Erziehungsberechtigten können von Staatswegen nicht gezwungen werden,
die ihnen anvertraute Jugend zur Teilnahme am Religionsunterricht oder an religiösen Übungen anzuhalten.
16. Die Beamten haben das unbeschränkte Recht ihrer staatsbürgerlichen Betätigung. Die Rechte der Beamten bleiben unabgetastet.
17. Bis zur endgültigen Erledigung des Verfassungsentwurfes, der dem Landtag sofort nach seinem Zusammentritt vorgelegen werden muß,
übt die revolutionäre Regierung die gesetzgebende und vollziehende Gewalt aus.
18. Dieses Staatsgrundgesetz tritt, insoweit es nicht bloße Programmsätze (Ziff. 11, 12, 13, 14, 15) enthält, mit seiner Verkündigung in Kraft.
München, den 4. Januar 1919
Kurt Eisner. E. Auer. H. v. Frauendorfer. Hoffmann. Dr. Jaffé. Roßhaupter. J. Timm. Unterleitner.
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