Erich Mühsam schrieb in seiner Zeitschrift Fanal, das 1931 für vier Monate verboten wurde
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Das Rätesystem
Über Wesen, Sinn und Aufgaben des Rätesystems herrschen weithin die unklarsten Vorstellungen, und selbst in den freiheitlichen Arbeiterverbänden gibt es die widersprechendsten Auffassungen darüber, ob und in welcher Weise Räte zu schaffen seien und wirken sollen.
Diese Verwirrung ist auf die Spitze getrieben durch die Übernahme des Rätebegriffs in Staatsgesetze und kapitalistische Produktionsmethoden. Man hat, um der Forderung der Arbeiter, die Betriebseinrichtungen und das Arbeitsverfahren unter eigener Aufsicht zu halten, scheinbar entgegenzukommen, Belegschaftsausschüsse an den Arbeitsstätten zugelassen, ihren Mitgliedern den Namen Betriebsräte gegeben und damit eine revolutionäre Gesellschaftswurzel in die Saugpumpe der kapitalistischen Ausbeutung eingebaut.
Zugleich hat man das dem Rätewesen gegensätzlichste System der parlamentarischen Auszähldemokratie benutzt, um die Zusammensetzung jener mit engsten Rechten ausgestatteten Kontrollausschüsse von Parteizentralen aus zu lenken und in ihrer Abhängigkeit zu halten.
Selbst da, wo schon die Revolution unter der Losung „Alle Macht den Räten!“ den Sieg der Arbeiter und Bauern brachte, wurden die Räte staats- und parteiuntertan und, statt das öffentliche Geschehen zu bestimmen und in sozialistischem Geiste zu leiten, zu bloßen Werkzeugen der Obrigkeit erniedrigt.
Wenn, wie es hin und wieder vorkommt, Anarchisten hieraus den Schluß ziehen, die ganze Räte-ldee sei nunmehr als freiheitswidrig erwiesen, so begehen sie denselben Denkfehler wie jemand, der aus dem Gebaren der Staatsjustiz folgern wollte, es könne niemals ein gesellschaftliches Recht geben.
Die Verfälschung eines Gedankens kann nicht den Gedanken selbst widerlegen.
Räte als die Träger der sozialistischen Gemeinschaft sind die Beauftragten aller am allgemeinen Werk beteiligten Menschen, durch die sich die Gesamtheit der Tätigen mit jeder einzelnen Person in den gesellschaftlichen Lebensprozess einschaltet.
In einer von Ausbeutung befreiten Zeit versieht ausnahmslos jeder Mensch, der sich nicht etwa selbst außerhalb des sozialen Geschehens stellt, Rätedienste.
Nur für die Zeit des revolutionären Überganges müssen selbstverständlich diejenigen von aller Rätearbeit ferngehalten werden, gegen die sich die Revolution richtet.
Da es erste Verpflichtung der Räte ist, die kapitalistische Ausbeutung abzuschaffen und das sozialistische Gemeinwesen zu verwirklichen, können Personen, die den Sozialismus gar nicht wollen, nicht zum Aufbau des Sozialismus herangezogen werden.
In dieser Zeit fällt den Räten die besondere Aufgabe zu, die Zwangsmaßregeln der proletarischen Klasse durchzuführen, die zur Brechung gegenrevolutionärer Bestrebungen erforderlich sind und zu verhindern, dass sich unter Berufung auf Gefährdungen der Revolution neue Regierungsgebilde auftun, die von Rätemacht reden, um ihre eigne Macht dahinter zu befestigen, und die von einer Diktatur des Proletariates sprechen, um selber Diktatoren spielen zu können.
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