Otto Gross war ein aktives Mitglied der sozialistisch-anarchistischen Bewegung und auch in literarische Kreise in der Wiener, Münchner, Berliner und Schweizer Boheme integriert.
Friedrichshagen am Müggelsee
Auch Magnus Hirschfeld gehörte zu den „Dichterkreisen“, die nicht nur Maler und Theaterleute wie Strindberg, Gustav Landauer, Fidus und Mühsam zeitweise in der „Berliner Sommerfrische“, dem östlich von Berlin gelegenen Luftkurort an der Bahnstation der Schlesischen Eisenbahn in bewegten Kreisen lebten:
Von hier aus wurde die Erneuerung der Freien Volksbühne Berlin betrieben, als sie unter SPD-Regentschaft nur noch ältere Literaten spielte, und die Gedanken der Lebensform nach der Kaiserzeit vorbereitet: Anarchismus, Sozialismus, Demokratie – wie sollte das gehen?
Hier gibt es auch ein wunderbares Antiquariat, das ein kleines Museum beherbergt: Der Dichterkreis Friedrichshagen hat aktuell eine Ausstellung und ein Heft zu Gustav Landauer auf der Basis der reichhaltigen Polizei-Akten zusammengestellt,
aber auch die Serie der thematischen Hefte zu Gästen, Theaterleuten, Malern und Genossenschaften, die das damalige Aufbrechen zu neuen Lebensformen herbei schrieben, druckten und selbst versuchten, ist eine spannende Fundgrube zu jener Zeitgeschichte.
Am Monte Verita
Otto Gross brachte als Freud-Schüler die aktuellen Denk-Figuren der Psycho-Analyse: Was in der „Redekur“ aus der Verdrängung geholt wurde, welche autoritären Verformungen in der Erziehung passieren (davon hatte Gross heftiges erfahren)
und wie das Leben in der Freien Liebe zu gestalten sei …
… neben dem Entzug, den Gross für seine Kokain-Abhängigkeit dort suchte, Hermann Hesse für seine Alkohol-Sucht.
Umfragen in Schwabinger Cafes
Es gibt Erzählungen zu seinen Umfragen zur Zufriedenheit mit der erlebten Sexualität, die auch in den Kreisen der Boheme noch aufsehen erregten, in denen eine Franziska Gräfin zu Rewentlow als erste bewusste Allein-Erziehende mit Sohn noch Aufsehen erregte.
Freund und Berater von Erich Mühsam
Erich Mühsam lebte damals in einer Beziehung mit Johannes Nohl, aber auch in wechselnden Arten der Freien Liebe, bürgerlich noch völlig unaussprechbar, heute vielleicht unter poly-amor zu fassen: Wenn alle Beteiligten offen damit umgehen können.
Die Freie Liebe als Politikum
Auf dem 1. Internationalen Psychoanalytischen Kongress in Salzburg gab es heftige Auseinandersetzungen: Gross sprach dort über „culturelle Perspektiven“ der Psychoanalyse, meinte aber vor allem auch die politische Bedeutung, die konservative Ärzteschaft wollte aber von den Bedeutungen für emanzipatische Bewegungen nichts wissen.
Später verordneten Freud und die führenden Kreise der Psycho-Analytischen Gesellschaft ein Erwähnungs-Verbot für den Namen Otto Gross, wie auch für Wilhelm Reich, das bis heute in den universitären Kreisen gilt.
Lebensreformer*innen
Der Monte Verita wirkt weiter: Nicht nur die immer noch wirksame Provokation der Nacktheit, auf Liegewiesen im Englischen Garten als Erwähnung in japanischen Reiseführern für München …
Drogen als Absturz
Otto Gross lieferte Beiträge für die Zeitschriften Die Erde und Das Forum, und er wechselte seine Wohnorte zwischen Graz, Wien und München. Im Oktober 1919 zog er nach Berlin, wo er bei Cläre und Franz Jung in Friedenau wohnte.
Am 11. Februar 1920 wurde er unter Entzugssymptomen leidend in einem Durchgang zu einem Lagerhaus von Freunden – auch von Hans Walter Gruhle – aufgefunden und in eine Klinik nach Pankow gebracht, wo er zwei Tage später starb.
Otto Gross promovierte und habilitierte in dem Fach Psychiatrie. Er war in seiner Forschung bemüht, eine Synthese zwischen Psychoanalyse, Psychiatrie und Nietzscheanischer Philosophie zu entwerfen. Gross zählt zu den ersten Autoren, die über Psychoanalyse veröffentlichten. Von Sigmund Freud wurde er in seinen jungen Jahren sehr geschätzt.
Auf dem 1. Internationalen Psychoanalytischen Kongress in Salzburg sprach er über „culturelle Perspektiven“ der Psychoanalyse. Seine Hinwendung zur politischen Rolle der Psychoanalyse (wie bei Wilhelm Reich) wurde dann aber sehr abgelehnt.
Er wurde ein aktives Mitglied der sozialistisch-anarchistischen Bewegung und auch in literarische Kreise in der Wiener, Münchner, Berliner und Schweizer Boheme integriert.
Aufgrund verschiedener Affären und wegen seiner Drogensucht wurde er auf Betreiben seines Vaters, des berühmten Strafrechtlers Hans Gross, in psychiatrischen Anstalten interniert, entmündigt, steckbrieflich gesucht und als Anarchist verhaftet. 1920 verstarb er unter ungeklärten Umständen. http://www.psyalpha.net/biografien/otto-gross / von mir ergänzt
Quellensammlung
Ausführlich bei Erich Mühsam in den Tagebüchern in verschiedenen Bemerkungen und Berichte, wie dem Wunsch, gemeinsam eine literarisch-Psychoanalytische Zeitschrift herauszugeben: muehsam-tagebuch.de/tb/diaries.php#d_1911_07_04
Ich war dann die meiste Zeit meines Züricher Aufenthalts mit Gross beisammen, und wir vertrugen uns sehr gut. Zwar wars das erste, daß er mir das Versprechen abpreßte, ich müsse für eine Zeitschrift die er gründen wolle, 100 Franken hergeben. Auch war er zuerst etwas argwöhnisch und wollte vor allen Dingen nichts von meinem Vorschlag wissen, er müsse Johannes Nohl zur Mitarbeit heranziehn. Dem nimmt er den Artikel über Landauers Buch übel, worin er seinen Gottbegriff erläutert. Aber allmählich gewann ich ihn und wir wurden wirklich Freunde. – Sofie Benz‘ Tod frißt furchtbar an dem armen Menschen. Er hat alles verloren mit ihr, was ein Mensch überhaupt verlieren kann und oft sah ich ihn in diesen Tagen um die Geliebte weinen. Schrecklich ist auch die Kokainsüchtigkeit bei ihm. Ewig auf dem Sprung zur Apotheke, ewig mit der Schachtel in der Hand und mit dem Kiel in der Nase, die immer verletzt und mit Salbe verschmiert ist. Dabei halluziniert er neuerdings viel, hört Beschimpfungen gegen sich, er sei ein Feigling etc. Ich ging sehr auf seine Art ein und bemühte mich, seine psycho-analytische Methode an ihm selbst unmerklich anzuwenden. Es gelang mir auch allmählich die Selbstvorwürfe, die er sich wegen Sofie macht, zu entkräften. Jedenfalls bin ich jetzt darüber sicher orientiert, daß er sich nicht blos nicht die Anregung zu dem Selbstmord gegeben hat, sondern seit langer Zeit bei Sofie gegen die Tendenz gearbeitet hat, ihn zu begehn. Sehr lange Gespräche – ich antizipiere hier schon die folgenden Tage – hatte ich mit ihm über Frick. Der hat zuletzt noch mit Sofie Verhältnis gehabt. Er hat dann nach ihrem Tode Gross, der von Schmerz völlig zerrissen war, die Schuld gegeben, und Gross hat infolgedessen eine sehr abweisende Stimmung jetzt gegen Frick. Auch über Frieda sprachen wir viel, die – ich Pechvogel! – zwei Tage vor meiner Ankunft in Zürich gewesen war. Ich ließ Gross recht tief in mich hineinschauen und habe die Gewißheit, daß er in günstigem Sinne über mich an Frieda berichten wird. Das muß mir um so wichtiger sein, als doch vielleicht damals, als ich die Geliebte verlor, seine Gehässigkeiten auf ihre Stellung zu mir eingewirkt haben mögen. Er hat mich beim Abschied vorgestern wegen all dieser Dinge sehr um Verzeihung gebeten. Dieses häufige Erinnern an Frieda in dieser Zeit des Zusammenseins mit Gross hat mich furchtbar ergriffen, grade weil er seinerzeit die glücklichste Periode meines armen Lebens so nah mitangesehn hatte, und da er der war, der nachher am hitzigsten gegen mich bei Frieda gewühlt hat.
http://www.ottogrossgesellschaft.com
Magnus Hirschfeld und sein Bruder – befreundet mit Adolf Brand in Friedrichshagen: „Der Einstein des Sex“ (Film von Rosa von Praunheim Berlin 2000)
Magnus Hirschfeld gründet 1919 das Institut für Sexualwissenschaft in Berlin, https://www.magnus-hirschfeld.de
1920 Verletzung durch völkische „Rowdies“ oder SA-Schläger in München, Todesanzeige … bleibt 1934 bei einer Auslandsreise, sein Institut wird von Nazis zerstört.
Wikipedia https://de.wikipedia.org/wiki/Otto_Gross
https://github.com/raete-bayern/Personen/wiki/Otto-Gross—PsychoPolitik/_edit
by
5. Juni 2018 um 14:40 Uhr
Yo. Und nicht vergessen – die umfangreiche Quellensammlung unter http://www.ottogross.de.
6. Juni 2018 um 13:52 Uhr
danke für die wunderbaren Anregungen, und die Publikationen zu Otto Gross und dem Monte Verita werden jetzt immer mehr, bin gespannt, ob das auch in den Wandervogel weiter geht …
6. Juni 2018 um 13:53 Uhr
Nimmt man die Anpassung an das Bestehende als das Normale an, dann wird man Unzufriedenheit mit dem Bestehenden als Zeichen geistiger Gestörtheit auffassen können. Nimmt man die höchste Entfaltung aller Möglichkeiten, die dem Menschen angeboren sind, als Norm und weiß man intuitiv und aus Erfahrung, daß die bestehende Gesellschaftsordnung die höchstmögliche Entwicklung des Einzelmenschen und des Menschentums unmöglich macht, dann wird man das Zufriedensein mit dem Bestehenden als Unterwertigkeit erkennen.
https://autismusjournal.wordpress.com/2018/06/01/autoritaet-und-autismus/